Rette sich wer kann?

21. November 2023 — von Birka Kallenbach  

Wenn der Tierarztbesuch zur Tortur wird - über Angstpatienten und angenehme Praxisbesuche

Ein Hund, der im Wartezimmer oder auf dem Weg zur Praxis schon gestresst ist, bellt oder extrem aufgeregtes Verhalten zeigt, ist keine Seltenheit in der Tierarztpraxis. Medical Training und ausgebildetes Fachpersonal in der Verhaltenstherapie können dabei helfen, solchen Ängsten vorzubeugen. Wie das funktioniert? Wir haben mit Dr. med. vet. Astrid Schubert darüber gesprochen, was Besitzer*innen dafür tun können, dass ihr Vierbeiner nicht zum Angstpatienten wird.

Astrid, Angstpatienten sind keine Seltenheit - beim Tier wie beim Menschen. Was ist denn der Unterschied von einem Hund, der Angst beim Tierarzt hat, zu meiner Angst vor dem Zahnarzt?

Menschen sind in der Regel weniger aggressiv. Sie werden nervös und fahrig, hibbelig oder ähnliches. Du flüchtest aber nicht aus dem Wartezimmer oder versuchst, den Zahnarzt zu beißen (lacht) …

… stimmt!

Hunde, beziehungsweise Tiere, haben keinen Höflichkeitsfilter und wissen nicht, warum sie gerade da sind. Das Tier versucht bei Unwohlsein und Stress instinktiv, die Distanz zu vergrößern. Die ersten Stresssignale werden oft nicht erkannt, weil Besitzer*innen und Personal sie nicht lesen können. Wenn der Stress dann zu groß wird, greift das Tier zu Plan B: Flucht oder Angriff. Beides ist während der Behandlung für alle sehr unangenehm.

Wenn man als Tierärztin immer auf den Wunsch nach Distanz eingeht, werden Untersuchungen aber schwierig, oder?

Das kann sein. Einerseits muss man dann abschätzen, was man machen kann, was nötig ist, und wie man es für den Hund erleichtern kann. Andererseits gibt es auch Dinge, die “müssen” eben nicht sein. Die kann man dann weglassen oder verschieben beziehungsweise die Termine dem Hund anpassen.

Wie kann eine solche Anpassung denn aussehen?

Da gibt es tatsächlich einige Möglichkeiten. Sowohl auf Besitzer- , als auch auf der Tierarztseite. Besitzer*innen können nach Absprache zum Beispiel schon zuhause eine Stelle vor dem Blut abnehmen rasieren, vor Spritzen kann eine lokale Betäubungscreme dabei helfen, die Behandlung angenehmer zu machen. Ein gutes Medical Training mit einem jungen oder Tierarzt-unerfahrenen Hund kann aber schon vorher dazu beitragen, eine Angst gar nicht erst entstehen zu lassen.
Auf der Tierarztseite kann es aber auch Sinn machen, eine Behandlung mal zu vertagen - nicht alles muss immer sofort passieren. Das kann dabei helfen, die Angst vor dem Tierarzt nicht zu vergrößern und ein Problemtier zu “schaffen”.

Kannst du uns erklären, wie so ein Medical Training aussieht und wer es macht?

Medical Training bedeutet, medizinische Abläufe zu üben, kennenzulernen und Ängsten vorzubeugen. Natürlich wird es auch bei Patienten eingesetzt, die schon eine Angst entwickelt haben - besser und einfacher ist es aber, vorzubeugen. Ein erstes Warnzeichen dafür, dass Medical Training sinnvoll ist, ist zum Beispiel, wenn es dem oder der Besitzer*in schwer fällt, Augen- oder Ohrentropfen zu geben. Wenn das dem Hund nicht so wohl ist, kann man noch gut vorsorgen, dass er nicht zum Angstpatienten wird - durch viel Übung. Durchgeführt wird es am besten vom Praxispersonal. Denn die haben etwas sehr wichtiges zur Hand - medizinisches Wissen und die richtige Umgebung.

Warum brauche ich medizinisches Wissen, um ein Medical Training durchzuführen?

Wir sehen es häufig - aber nicht nur - bei älteren Hunden, dass ein aggressives, gestresstes Verhalten auch von Schmerzen herrühren kann. Eine Einschätzung geben zu können, warum sich der Hund jetzt gerade so verhält, und sagen zu können, woran es auch aus medizinischer Sicht liegen könnte, ist also sehr sinnvoll. TFA kennen da auch spezifische Handgriffe aus der Praxis: Wie wird es wirklich am Ende auch beim Tierarzt gemacht, und nicht einfach irgendwie? Und das können sie den Besitzer*innen dann zeigen und mitgeben.

Woran erkenne ich als Besitzer*in ein gutes Medical Training Angebot?

Es sollte eine gewisse Ruhe herrschen und einen festen Termin geben. Es wird also nicht einfach so nebenher im Praxisbetrieb gemacht, sondern eventuell davor, danach, oder in einem nicht genutzten Raum. Es werden verschiedene Bereiche geübt - zum Beispiel das Wiegen und das Liegen auf dem Tisch, abtasten und so weiter. Gegenstände wie ein Stethoskop oder auch das Otoskop werden eingebunden und erklärt - und häufig auch Übungen für zuhause gezeigt. Also zum Beispiel, wie auch die Gabe von Augen- oder Ohrentropfen zuhause geübt werden kann. Es ist natürlich sinnvoll, dieses Training nicht nur einmalig zu machen, sondern häufiger. Wir reden nicht von täglich lebenslang, sondern eben ein Etablieren und positives Konnotieren der Praxisumgebung bei drei bis fünf Terminen bei einem Tier, was noch nie in der Praxis war.

Was würdest du Welpen-Besitzer*innen raten im Bezug auf Medical Training oder vor dem ersten Tierarztbesuch?

Einige Praxen bieten sogenannte Puppy-Parties an. Hier können die Hunde einfach die Umgebung “Praxis” kennenlernen. Im besten Fall findet der Termin mehrmals statt, und es werden verschiedene Dinge geübt. Zum Beispiel das Wiegen, sich auf dem Tisch anfassen zu lassen oder überhaupt einmal darauf zu sitzen, die Ohren anzuschauen oder Ähnliches. Wenn es solche Puppy-Parties und Angebote nicht in der Nähe gibt, kann auch schon zuhause angefangen werden zu üben. Dazu gibt es auch Online-Seminare - zum Beispiel auch von unseren Sirius-Seminaren!

Und welchen Tipp gibst du Hundebesitzer*innen, die einen älteren Hund neu haben, zum Beispiel aus dem Tierschutz?

Eine unterschätzte Maßnahme ist es, einfach einmal eine Erstuntersuchung zu vereinbaren. Das gibt Hund und Besitzer*innen die Möglichkeit, die Situation kennenzulernen, ohne dass Schmerzen und zusätzlicher Stress mit hineinspielen. Wer nicht erst zum Tierarzt geht, wenn es dem Hund schlecht geht, kann das vermeiden. Eine völlig unbekannte Umgebung kann das natürlich verstärken.

Was ist dein Abschlussplädoyer zum Thema Angstpatienten?

Angst ist ein sinnvoller Schutz, um den Körper vor Schaden zu bewahren. Es ist natürlich, dass der Hund vor unbekannten Prozeduren in der Praxis Angst zeigt. Mit dem richtigen Training und regelmäßigen Untersuchungen können medizinisch notwendige Eingriffe durchgeführt werden. Das entlastet Personal, Ärzt*innen und Besitzer*innen, die am Ende alle das Beste fürs Tier wollen.