» Liebe Besitzer*innen von Tierschutzhunden – keine Sorge, das ist völlig normal! «

29. Februar 2024 — von Birka Kallenbach  

Tierärztin für Verhaltenstherapie Dr. med. vet. Astrid Schubert engagiert sich im Tierschutz und behandelt viele Tierschutzhunde in der verhaltenstherapeutischen Sprechstunde. Sie hat selbst drei Hunde aus Rumänien aufgenommen. Astrid hat uns die häufigsten Fragen dieser Besitzer*innen beantwortet.

Mein Tierschutzhund hat vor vielem Angst. Was kann da helfen?

Das geht vielen so! Das Grundproblem bei einem Hund aus dem Ausland: Wir wissen nichts über seine Vorgeschichte. Hinter übergroßer Angst oder Panik kann ein Mangel an Erfahrungen ebenso wie traumatische Erfahrungen oder eine Mischung aus beidem stecken. Wenn man sich das Leben des Hundes vor der Einreise nach Deutschland vorstellt, muss man bedenken: Das Leben in den Sheltern sieht meistens anders aus, als wir es von Hunden hier in Deutschland – selbst im Tierheim – kennen. Dort gehen sie oftmals gar nicht Gassi, die Tierheime sind in abgelegenen Gegenden und die Hunde kommen selten oder nicht in den Auslauf-Bereich. Meist sind sie Tag und Nacht in dem gleichen Zwinger. Häufig kommen auch viele Hunde auf wenige Tierpfleger*innen und haben so wenig Kontakt zu Menschen. Wenn die Hunde im Tierheim aufgewachsen sind, haben sie häufig ein Sozialisierungsdefizit. Dann ist in einer deutschen Stadt (oder auch im Dorf) vieles neu und gruselig für die Fellnasen. Was da hilft, ist vor allem Geduld und damit der Aufbau einer tragfähigen Bindung. Das kann schon Wochen bis Monate dauern. Ihr könnt sie zum Beispiel durch »Natur-Pur-Spaziergänge« stärken, wie ich sie nenne. In abgelegenen Gegenden wie im Wald und »antizyklisch«, also zum Beispiel früh morgens oder spät abends, kann es für den Hund einfacher sein und ihr könnt an eurer Bindung arbeiten. Generell solltest Du den Hund sehr langsam an die neuen Dinge heranführen. Wenn Du immer wieder an seine Belastungsgrenzen gehst, kann er sein Vertrauen in die Spaziergänge verlieren und verweigert im schlimmsten Fall das Gassigehen komplett. Wenn Du das Gefühl hast, die Angst des Hundes wird in den ersten Tagen bis Wochen nicht besser, sondern schlechter, suche am besten professionelle Hilfe. Keine Sorge – viele Tiere, egal ob Tierschutz oder nicht, kommen mit solchen »Baustellen« – Expert*innen verurteilen nicht, sondern können praxisorientierte Tipps geben.

Mein Tierschutzhund ist so dünn, wie kann ich ihm helfen?

Die meisten Hunde aus dem Auslandstierschutz kommen mit »blinden Passagieren« an Bord nach Deutschland. Es ist schlicht unmöglich, ein Tierheim »keimfrei« zu halten. So können auch regelmäßige Entwurmungen – selbst wenn sie wirklich sorgfältig verabreicht wurden – nicht vor einer erneuten Infektion bewahren. Eine Behandlung von Erkrankungen wie Giardien macht vor Ort wenig Sinn, denn die Hunde würden sich sofort wieder anstecken. Deshalb solltest Du hier baldmöglichst eine Untersuchung vereinbaren. Jeder Hund aus dem Tierschutz – nicht nur die, die untergewichtig erscheinen – sollte zunächst einmal auf Parasiten getestet werden. Das Ergebnis entscheidet dann über die weitere Behandlung. Auch bei der Frage nach der Ernährung kann die Tierarztpraxis helfen – oft gibt es dort auch spezialisierte Ernährungsberatung, die dir weiterhelfen kann.

Mein Hund ist jetzt schon vier Wochen bei mir und hat immer noch Angst oder macht Rückschritte.

Vor solchen Fragen stehen viele Adoptanten – die wichtigste Antwort: die Entwicklung, vor der ihr steht, ist nicht linear! Wenn gestern etwas gut geklappt hat, heißt das nicht unbedingt, dass es morgen auch klappt – aber in drei Tagen kann es wieder super sein. Auch hier ist »leider« Geduld der Schlüssel zum Erfolg. Wenn du dir unsicher bist, wie du mit einem bestimmten Verhalten umgehen sollst, suche eine*n Tierärzt*in – am besten für Verhaltenstherapie – auf. Oft haben Tierschutzhunde auch körperliche Probleme. Alte Autounfälle, schlecht verheilte oder unentdeckte Frakturen, parasitäre Erkrankungen, die Bauchschmerzen verursachen, Resorptionsstörungen, die zu Nervosität führen können oder posttraumatische Entwicklungsstörungen, die immer wieder aufflammen. Auch sogenannte »Emotional Injuries« aus den ersten Lebensmonaten oder ein Mangel an Erfahrung können zu einer emotionalen Inkompetenz bei den Hunden führen. Gerade aufgrund alter Verletzungen macht es Sinn, den Hund beim Tierarzt gründlich durchchecken zu lassen. Hier kann ein*e Tierärzt*in für Verhaltenstherapie ‒ mit medizinischem und verhaltenstherapeutischem Hintergrund ‒ die geeignete Hilfestellung bieten. So kann festgestellt werden, ob dem Verhalten vielleicht körperliche Schmerzen zugrunde liegen oder wie ihr mit dem Hund am besten arbeiten könnt, um Angst, Aggression oder andere Verhaltensauffälligkeiten zu verbessern.

Der Hund kennt keinen Tierarzt – soll ich schon in die Praxis, bevor er etwas hat?

Unbedingt! Ich empfehle immer einen Besuch in der Praxis, bevor der Hund etwas hat. Denn das ermöglicht es euch beiden, entspannter wiederzukommen, wenn wirklich etwas ansteht. Am besten zur Gewöhnung ist ein Kennenlern-Termin. Hier kann das Praxispersonal feststellen, ob der Hund alle Impfungen hat, wie der Allgemeinzustand ist und auch Deine Fragen beantworten. Das ist nur ein kleiner Baustein, einer Angst vor dem Tierarzt vorzubeugen, aber es ist ein Anfang. Besonders Hunde, die die Nähe und Berührung durch fremde Menschen scheuen, werden die Situation in der Tierarztpraxis eventuell als besonders stressig empfinden. Bevor die Angst sich bestätigt, weil sie eines Tages mit schmerzhaften Symptomen untersucht werden müssen, könnt ihr ein Medical Training machen. Das ist wichtige Vorbeugung und kann viel Nerven und Stress sparen.

Sag mal, ist das nicht alles viel komplizierter, als einfach einen Welpen zu kaufen?

Das kann schon kompliziert sein - allerdings kann auch jeder Rassehund vom Züchter »kompliziert« sein. Diese Hunde sehe ich in der verhaltenstherapeutischen Sprechstunde genauso häufig wie Hunde aus dem Tierschutz. Für diese Hunde hat sich das ganze Leben mit der Adoption verändert und fast immer endet es mit einem Happy End für beide Seiten.